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Verbot der Doppelverfolgung gilt nicht uneingeschränkt

Der EuGH hat entschieden, dass ein Tatverdächtiger in einem Schengen-Staat erneut strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn die frühere Strafverfolgung in einem anderen Schengen-Staat ohne eingehende Ermittlungen eingestellt worden ist.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg (Deutschland) wirft Herrn K. vor, in Hamburg eine schwere räuberische Erpressung begangen zu haben. Das LG Hamburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens jedoch mit der Begründung ab, dass dem der Grundsatz ne bis in idem, wie er im Schengen-Raum1 gilt, entgegenstehe. Nach diesem Grundsatz darf eine Person wegen derselben Straftat nicht zweimal verfolgt oder bestraft werden. Im vorliegenden Fall hatte die Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg in Polen, wo Herr K. wegen einer anderen Straftat festgenommen worden war, wegen derselben Tat bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet und dieses mangels hinreichenden Tatverdachts endgültig eingestellt. Der Einstellungsbeschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg wurde konkret damit begründet, dass Herr K. die Aussage verweigert habe und dass der Geschädigte und ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen werden können, und dass die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können. In Polen wurden keine eingehenderen Ermittlungen durchgeführt.

Das von der Staatsanwaltschaft Hamburg angerufene OLG Hamburg ersucht den EuGH um Präzisierung der Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem. Es möchte insbesondere wissen, ob Herr K. angesichts des Umstands, dass der Beschluss der polnischen Staatsanwaltschaft ohne eingehende Ermittlungen (nach Ansicht des Oberlandesgerichts unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache im Hinblick hierauf von der Rechtssache, in der das Urteil des EuGH vom 05.06.2014 (C-398/12) ergangen ist) erlassen wurde, als „rechtskräftig abgeurteilt“ (i.S.v. Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen) oder „rechtskräftig … freigesprochen“ (i.S.v. Art. 50 der Charta) anzusehen ist, so dass der Grundsatz ne bis in idem einer erneuten Strafverfolgung wegen derselben Tat in Deutschland entgegenstünde.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Tatverdächtiger in einem Schengen-Staat erneut strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn die frühere Strafverfolgung in einem anderen Schengen-Staat ohne eingehende Ermittlungen eingestellt worden ist. Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellt ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen dar, so der EuGH.

Nach Auffassung des EuGH verfolgt der Grundsatz ne bis in idem das Ziel, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Schengen-Staat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Raum bewegen könne, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Schengen-Staat wegen derselben Tat verfolgt werde. Dieser Grundsatz verfolge jedoch nicht das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Schengen-Staaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt sei.

Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auf einen Einstellungsbeschluss, den die Justizbehörden eines Schengen-Staates ohne jede eingehende Prüfung des dem Angeschuldigten vorgeworfenen rechtswidrigen Verhaltens erlassen haben, liefe dem Zweck des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der in der Bekämpfung der Kriminalität bestehe, offensichtlich zuwider und könnte das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander gefährden.

Daher hat der EuGH für Recht erkannt, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person (ohne die Auferlegung von Sanktionen) endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung (i.S.v. Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen i.V.m. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) zum Zwecke der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären. Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellten ein Indiz dafür dar, dass keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind.

Angesichts dieser Antwort braucht nach Auffassung des EuGH die andere Frage des OLG Hamburg nicht mehr beantwortet zu werden. Mit dieser Frage wollte das Oberlandesgericht wissen, ob die für einen Schengen-Staat bestehende Möglichkeit, bei der Ratifikation des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen einen Vorbehalt anzubringen, so dass dieser Staat durch den Grundsatz ne bis in idem nicht gebunden ist, wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (Deutschland hatte einen solchen Vorbehalt angebracht), im Hinblick auf die Charta der Grundrechte noch gültig ist.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 69/16 v. 29.06.2016

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