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EuGH-Urteil zur Sprache und zur Zustellung in Strafbefehlsverfahren gegen Ausländer

Der EuGH hat sich mit Fragen zur Sprache und zur Zustellung in Strafbefehlsverfahren gegen Ausländer befasst.

Das AG Laufen (Deutschland) ist mit folgendem Fall befasst: Bei einer polizeilichen Kontrolle im Januar 2014 wurde festgestellt, dass Herr C., ein rumänischer Staatsangehöriger, in Deutschland ein Kraftfahrzeug führte, für das kein gültiger Haftpflichtversicherungsvertrag bestand, und dass die von ihm vorgewiesene grüne Versicherungskarte gefälscht war. Herr C. wurde zu diesem Sachverhalt unter Hinzuziehung eines Dolmetschers polizeilich vernommen. Da Herr C. keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt in Deutschland hatte, erteilte er drei Bediensteten des AG Laufen für an ihn gerichtete gerichtliche Urkunden eine unwiderrufliche schriftliche Zustellungsvollmacht. Nach deren Wortlaut beginnen Fristen für Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen mit ihrer Zustellung an die benannten Zustellungsbevollmächtigten zu laufen. Nach Abschluss der Ermittlungen beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein (Deutschland) im März 2014 beim AG Laufen den Erlass eines Strafbefehls gegen Herrn C., mit dem eine Geldstrafe verhängt werden soll. Das Strafbefehlsverfahren ist ein vereinfachtes Verfahren ohne Verhandlung oder kontradiktorische Erörterung. Der Strafbefehl, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Gericht wegen geringfügiger Straftaten erlassen wird, stellt eine vorläufige Entscheidung dar. Er wird mit Ablauf einer Zweiwochenfrist ab seiner Zustellung, gegebenenfalls an die Zustellungsbevollmächtigten der belangten Person, rechtskräftig. Letztere kann eine kontradiktorische Erörterung nur erreichen, wenn sie gegen den Strafbefehl vor Ablauf dieser Frist Einspruch einlegt. Der Einspruch, der schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden kann, führt zur Durchführung einer Gerichtsverhandlung. Im vorliegenden Fall beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein die Zustellung des Strafbefehls an den Beschuldigten über seine Zustellungsbevollmächtigten und verlangte darüber hinaus, dass etwaige schriftliche Erklärungen des Betroffenen, einschließlich der Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Strafbefehl, in deutscher Sprache abgefasst werden.

Das AG Laufen hat erstens Zweifel, ob die Verpflichtung nach dem deutschen GVG, einen Einspruch gegen einen Strafbefehl auf Deutsch abzufassen, mit den Bestimmungen der Richtlinie 2010/64 im Einklang steht, die für Beschuldigte in Strafverfahren eine unentgeltliche sprachliche Unterstützung vorsehen. Zweitens hat das Amtsgericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der für den Strafbefehl vorgesehenen Zustellungsmodalitäten mit der Richtlinie 2012/13, wonach die Mitgliedstaaten u.a. sicherzustellen haben, dass detaillierte Informationen über den Tatvorwurf spätestens erteilt werden, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird. Das AG Laufen hat den EuGH daher um Auslegung der beiden Richtlinien ersucht.

Der EuGH antwortet dem AG Laufen (Deutschland) wie folgt:

1. Die Richtlinie 2010/64 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren steht einer nationalen Rechtsvorschrift wie der hier fraglichen, nach der es im Rahmen eines Strafverfahrens dem Beschuldigten, an den ein Strafbefehl gerichtet wird, nicht gestattet ist, gegen den Strafbefehl in einer anderen als der Verfahrenssprache schriftlich Einspruch einzulegen, auch wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist, nicht entgegen, sofern die zuständigen Behörden nicht gemäß Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie der Auffassung sind, dass der Einspruch im Hinblick auf das betreffende Verfahren und die Umstände des Einzelfalls ein wesentliches Dokument darstellt.

2. Die Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren steht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der fraglichen, nach der ein im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, nicht entgegen, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt.

Zur Richtlinie 2010/64 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren stellt der EuGH fest, dass sich das darin vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen (Art. 2) auf die Übersetzung mündlicher Mitteilungen zwischen den verdächtigen oder beschuldigten Personen und den Ermittlungs- und Justizbehörden oder gegebenenfalls dem Rechtsbeistand durch einen Dolmetscher bezieht, unter Ausschluss der schriftlichen Übersetzung von Schriftstücken, die diese verdächtigen oder beschuldigten Personen vorlegen.

Im deutschen Strafbefehlsverfahren habe die beschuldigte Person, um eine kontradiktorische Erörterung zu erreichen, in der sie ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in vollem Umfang wahrnehmen könne, nur die Möglichkeit, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen. Der Einspruch könne schriftlich oder – unmittelbar zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts – mündlich eingelegt werden, bedürfe keiner Begründung, sei an eine besonders kurze Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Strafbefehls gebunden und müsse nicht von einem Rechtsanwalt eingelegt werden, sondern dies könne auch der Beschuldigte selbst tun.

Das in der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen (Art. 2) gewährleiste einer Person, die sich in einer Situation wie der von Herrn Covaci befinde, die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers, wenn diese Person selbst mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen nationalen Gerichts Einspruch gegen den an sie gerichteten Strafbefehl einlege oder wenn sie schriftlich Einspruch einlege und dabei einen Rechtsbeistand hinzuziehe, der die Abfassung des entsprechenden Schriftstücks in der Verfahrenssprache übernehme.

Auch das in der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen (Art. 3 Abs. 1 und 2) schließe grundsätzlich nicht die schriftliche Übersetzung eines Schriftstücks wie des Einspruchs gegen einen Strafbefehl, den die betreffende Person in einer Sprache verfasst habe, deren sie mächtig sei, die aber nicht die Verfahrenssprache sei, in Letztere ein. (RN 47) Dieses Recht betreffe nämlich grundsätzlich nur die schriftliche Übersetzung bestimmter, von den zuständigen Behörden in der Verfahrenssprache abgefasster Schriftstücke in die Sprache, die die betreffende Person verstehe.

Die Richtlinie 2010/64 setze allerdings lediglich Mindestvorschriften fest und überlasse es den Mitgliedstaaten, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Zudem erlaube es Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie den zuständigen Behörden ausdrücklich, im konkreten Fall darüber zu entscheiden, ob weitere als die in Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie vorgesehenen Dokumente im Sinne dieser Bestimmung wesentlich seien.

Es sei somit Sache des AG Laufen, unter Berücksichtigung insbesondere der Merkmale des Strafbefehlsverfahrens sowie der bei ihm anhängigen Rechtssache zu bestimmen, ob der schriftlich eingelegte Einspruch gegen einen Strafbefehl als wesentliches Dokument anzusehen sei, das übersetzt werden müsse.

Zur Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren stellt der Gerichtshof fest, dass die Zustellung eines Strafbefehls als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf anzusehen sei.

Sowohl das Ziel, dem Beschuldigten die Vorbereitung seiner Verteidigung zu ermöglichen, als auch die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Inland wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten – nur Letztere müssten für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Zustellungsbevollmächtigten benennen – geböten es, dass der Beschuldigte über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfüge.

Würde die im Ausgangsverfahren fragliche Zweiwochenfrist ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem der Beschuldigte von dem Strafbefehl, der die Unterrichtung über den Tatvorwurf enthalte, tatsächlich Kenntnis hatte, wäre gewährleistet, dass er über die volle Frist verfüge. Laufe diese Frist dagegen wie im vorliegenden Fall ab Zustellung des Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten, könne dieser seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen, und ein faires Verfahren sei nur dann gegeben, wenn er über die volle Frist verfüge, d.h., wenn ihre Dauer nicht durch die Zeitspanne verkürzt werde, die der Zustellungsbevollmächtigte benötige, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH v. 15.10.2015

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