1. Hintergrund des Falls
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 29. Juli 2025 in einem Beschluss (Az. 4 StR 280/25) entschieden, dass die vom Landgericht Bonn angeordnete Unterbringung einer Frau in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben und der Fall neu verhandelt werden muss.
Die Angeklagte war vom Landgericht Bonn im Februar 2025 wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen worden, nachdem sie mehrere körperliche Angriffe auf Passanten begangen hatte. Das Gericht hatte zugleich ihre dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet – eine der schwersten Maßnahmen, die das Strafrecht vorsieht.
Gegen diese Entscheidung legte die Frau Revision ein – und bekam nun beim Bundesgerichtshof Recht.
2. Die Taten: Unvermittelte Angriffe auf Passanten
Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte die Angeklagte, die an einer paranoiden Schizophrenie litt, zwischen 2022 und 2024 mehrere zufällige, grundlose Gewalttaten begangen.
-
Mai 2022: In einem Supermarkt schlug sie einem unbeteiligten Kunden ins Gesicht, nachdem sie des Marktes verwiesen worden war.
-
Juli 2023: Sie trat einem siebenjährigen Jungen plötzlich in den Bauch, während dieser mit seiner Mutter und Schwester unterwegs war.
-
Oktober 2023: Nach einer kurzen Begegnung mit einer Frau, die ihr kein Kleingeld geben wollte, kehrte sie zurück und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
-
Juli 2024: Eine ähnliche Szene: Nachdem sie vergeblich nach einer Zigarette gefragt hatte, kehrte sie zurück und ohrfeigte die Passantin.
-
August 2024: Der schwerwiegendste Vorfall: Die Angeklagte stieß eine Frau an einer roten Fußgängerampel plötzlich auf die Busspur, während ein Linienbus mit etwa 30 km/h näherkam. Nur durch das schnelle Reagieren des Busfahrers und der Passantin selbst kam es nicht zu einem Unfall.
Das Landgericht wertete die ersten vier Vorfälle als einfache Körperverletzungen (§ 223 StGB) und den letzten als versuchten gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB).
3. Freispruch wegen Schuldunfähigkeit – aber Unterbringung nach § 63 StGB
Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass die Angeklagte bei allen Taten schuldunfähig gewesen sei, da sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht wusste, was sie tat. Ein Schuldspruch sei deshalb ausgeschlossen.
Gleichzeitig sah das Gericht aber eine erhebliche Gefährdung der Allgemeinheit und ordnete daher ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Nach § 63 StGB ist dies möglich, wenn jemand wegen einer psychischen Störung schuldunfähig ist, aber auch künftig gefährliche Taten zu erwarten sind.
Das Landgericht stützte diese Prognose vor allem auf die beiden schwereren Vorfälle (den Tritt gegen das Kind und das Stoßen der Passantin auf die Straße).
4. Revision der Angeklagten – und die Entscheidung des BGH
Die Angeklagte legte Revision ein – also das Rechtsmittel gegen das Urteil des Landgerichts. Sie rügte, dass die Entscheidung rechtsfehlerhaft sei. Der Generalbundesanwalt unterstützte den Antrag teilweise.
Der BGH gab der Revision in vollem Umfang statt. Das heißt:
Das Urteil des Landgerichts Bonn wurde aufgehoben und der Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.
5. Der entscheidende Punkt: Rücktritt vom Versuch
Der BGH sah vor allem einen erheblichen Erörterungsmangel im Urteil.
Das Landgericht habe nicht geprüft, ob die Angeklagte im Fall mit der Busspur vom Versuch der Tat zurückgetreten sei.
Nach dem Strafgesetzbuch (§ 24 StGB) kann jemand straffrei vom Versuch zurücktreten, wenn er die weitere Tatausführung freiwillig aufgibt.
Ob die Angeklagte tatsächlich zurückgetreten ist, ließ sich aus den Urteilsgründen nicht erkennen. Es fehlten konkrete Feststellungen dazu,
-
wie sie die Situation nach dem Stoß wahrnahm,
-
ob sie glaubte, die Frau könne noch vom Bus getroffen werden,
-
und ob sie – theoretisch – noch hätte nachsetzen oder eine weitere Handlung ausführen können.
Der bloße Hinweis, dass sie sich „sodann vom Ort entfernte“, reiche nicht aus, um einen Rücktritt zu verneinen.
Das war für den BGH entscheidend:
Denn ein freiwilliger Rücktritt kann die Gefährlichkeitsprognose deutlich verändern – und damit auch die Rechtfertigung für eine Unterbringung nach § 63 StGB.
„Der Wille, die Tat nicht zur Vollendung kommen zu lassen, nimmt dem Verhalten des Täters regelmäßig seine besondere Gefährlichkeit“, so der BGH sinngemäß.
6. Folge: Unterbringungsentscheidung rechtsfehlerhaft
Weil dieser Punkt nicht geprüft wurde, erklärte der BGH die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus für rechtsfehlerhaft.
Zudem könne eine Unterbringung nicht auf eine Tat gestützt werden, von der jemand strafbefreiend zurückgetreten ist. Das Landgericht müsse die Frage also neu prüfen, bevor über eine Maßregel entschieden werden kann.
Der BGH hob deshalb auch die bisherigen Feststellungen zu dem Bus-Vorfall vollständig auf, um dem neuen Gericht eine widerspruchsfreie Neubewertung zu ermöglichen.
7. Auch die übrigen Taten: Zweifel an der Beweiswürdigung
Doch damit nicht genug: Der BGH fand auch in den übrigen vier Fällen erhebliche Mängel in der Beweiswürdigung.
Das Landgericht hatte nicht nachvollziehbar dargelegt, wie die Angeklagte als Täterin identifiziert wurde.
In den Urteilsgründen fehle:
-
eine Beschreibung, wie die Zeugen die Täterin wiedererkannten,
-
welche Merkmale oder Umstände für das Wiedererkennen ausschlaggebend waren,
-
und wie das Gericht die Zuverlässigkeit der Zeugenaussagen geprüft hat.
Besonders in Fällen, in denen die Identifizierung einer Angeklagten auf Zeugenaussagen beruht, gelten laut BGH hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung. Das Landgericht habe diese Anforderungen nicht erfüllt.
Damit ist auch der Tatnachweis in diesen Fällen zweifelhaft.
8. Konsequenz: Neues Verfahren
Da zentrale Punkte des Urteils fehlerhaft sind, ordnete der BGH an, dass die Sache neu verhandelt werden muss – und zwar vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Bonn.
Auch der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit wurde aufgehoben. Das neue Gericht muss also alle Taten und psychischen Fragen erneut prüfen.
9. Hinweise des BGH für das neue Verfahren
Der BGH gab dem Landgericht einige klare rechtliche Hinweise mit auf den Weg.
a) Prüfung des „natürlichen Vorsatzes“
Auch bei einer psychischen Erkrankung müsse das Gericht prüfen, was der Täter tatsächlich wollte oder für möglich hielt.
Ein krankheitsbedingtes Realitätsdefizit schließt den Vorsatz nicht automatisch aus.
b) Anforderungen an den Tatbestand des § 315b StGB
Ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr liegt nur vor, wenn jemand den Straßenverkehr gezielt beeinträchtigt und dabei Leib oder Leben anderer gefährdet.
Das Opfer selbst – hier die auf die Straße gestoßene Frau – kann nicht zugleich das „andere“ gefährdete Opfer sein.
Der Vorsatz müsste sich also auch auf eine Gefährdung anderer Personen, etwa des Busfahrers oder der Insassen, beziehen.
c) Zur „gefährlichen Körperverletzung“ (§ 224 StGB)
Für eine gefährliche Körperverletzung reicht es nicht, dass eine Handlung irgendwann lebensgefährlich werden könnte.
Die Art der Behandlung selbst – also hier das Stoßen – muss unmittelbar lebensgefährlich sein.
Das war hier zweifelhaft, da die Gefahr erst durch den herannahenden Bus entstand.
Auch beim Einsatz eines „gefährlichen Werkzeugs“ – wie einem Auto – ist entscheidend, dass der Täter den direkten Zusammenstoß mit dem Fahrzeug zumindest billigend in Kauf nimmt.
10. Bedeutung des Beschlusses
Der Beschluss ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam – sowohl für die Praxis der Strafgerichte als auch für den Umgang mit psychisch erkrankten Straftätern:
-
Hohe Anforderungen an Unterbringung nach § 63 StGB:
Eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist nur zulässig, wenn zweifelsfrei feststeht, dass von der Person künftig erhebliche Straftaten zu erwarten sind. Fehler in der Beweiswürdigung oder bei der Tatbewertung führen zur Aufhebung. -
Bedeutung des Rücktritts vom Versuch:
Auch bei schuldunfähigen Tätern ist ein freiwilliger Rücktritt möglich – und kann entscheidend dafür sein, ob sie als gefährlich gelten. -
Sorgfalt bei der Beweiswürdigung:
Der BGH mahnt erneut, dass Gerichte sorgfältig dokumentieren müssen, wie sie zu einer Täteridentifizierung gelangen. Nur so lässt sich die Entscheidung nachvollziehen und revisionsfest begründen. -
Schutz psychisch Kranker vor unrechtmäßiger Unterbringung:
Die Entscheidung zeigt, dass auch bei schwer psychisch Erkrankten die Gerichte strenge Maßstäbe ansetzen müssen, bevor jemand dauerhaft seiner Freiheit beraubt wird.
11. Fazit
Der BGH-Beschluss vom 29. Juli 2025 ist ein deutliches Signal an die Instanzgerichte:
Selbst bei offensichtlicher psychischer Erkrankung darf eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nicht leichtfertig angeordnet werden.
Nur wenn die Tat eindeutig bewiesen und eine Gefährlichkeitsprognose tragfähig begründet ist, darf diese einschneidende Maßnahme erfolgen.
Das Landgericht Bonn muss nun alles neu prüfen – vom Tatnachweis über den möglichen Rücktritt bis zur Frage, ob die Angeklagte tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.
Eine Antwort hinterlassen