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Garantenstellung einer Jugendamtsmitarbeiterin bei bekannter Kindeswohlgefährdung

Das OLG Hamm hat entschieden, dass ein Jugendamtsmitarbeiter nicht erst dann zum Handeln verpflichtet ist, wenn er von einer konkret eingetretenen akuten Gefährdung des Kindeswohls tatsächlich Kenntnis nimmt.

Vielmehr habe er auch für eine pflichtwidrig herbeigeführte Unkenntnis von einer solchen Gefährdung einzustehen. Anderenfalls wäre nämlich gerade derjenige Jugendamtsmitarbeiter, der alle an ihn herangetragenen Warnzeichen einer Kindeswohlgefährdung in einer von ihm betreuten Familie ignoriere und keinem Hinweis nachgehe, am umfassendsten vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt, so das Oberlandesgericht.

Die angeklagte Jugendamtsmitarbeiterin aus dem Hochsauerlandkreis betreute seit August 2013 eine alleinerziehende Mutter und deren neun Kinder. Aufgrund der Mitteilung eines anderen Jugendamtes war der Angeklagten bekannt, dass insbesondere ein Anfang 2012 geborener Junge und ein im Frühling 2013 geborenes Mädchen in ihrem Kindeswohl gefährdet sein könnten. Dennoch ist sie untätig geblieben, weshalb sie nicht erkannte, dass beide Kinder nicht ausreichend ernährt und mit Flüssigkeit versorgt worden sind. Das Mädchen konnte durch eine intensivmedizinische Behandlung gerettet werden, nachdem die Mutter sie in einer Notfallpraxis Anfang 2014 vorgestellt hatte. Dagegen verstarb der Junge nach einer Vorstellung einen Tag später durch die Kindesmutter im Krankenhaus, was auf seinen desolaten Versorgungszustand zurückzuführen gewesen ist.
Das AG Medebach hat die Angeklagte am 04.05.2017 (6 Ds 213/16) wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Mit ihren Berufungen gegen dieses Urteil haben die Angeklagte ihren Freispruch, da sie nach den fachlichen Standards der Jugendhilfe gehandelt haben will, und die Staatsanwaltschaft die Verurteilung zu einer höheren Freiheitsstrafe verlangt. Mit Urteil vom 07.01.2020 (3 Ns 101/17) hat das LG Arnsberg die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen. Auf die Berufung der Angeklagten hat es sie wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 3.500 Euro verurteilt. Während die Angeklagte ihre Garantenpflicht – d. h. ihre Verpflichtung, dafür einzustehen, dass der Tod des Jungen nicht eintritt – gegenüber diesem fahrlässig verletzt und ihr mögliche Maßnahmen zur Verhinderung von dessen Hungertod unterlassen habe, sei die Unterernährung des Mädchens für die Angeklagte nicht zu erkennen gewesen.

Die Revision der Angeklagten gegen dieses Urteil hatte vor dem OLG Hamm keinen Erfolg.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hat die Angeklagte eine Gefährdungseinschätzung bezüglich des verstorbenen Jungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten nicht vorgenommen, obwohl dies unter anderem aufgrund der Mitteilung von Auffälligkeiten durch ein anderes Jugendamt und weiterer ihr bekannter Umstände geboten, möglich und ihr zumutbar gewesen wäre. Danach hätte sich die Angeklagte zeitnah nach Übernahme des Falls einen persönlichen Eindruck verschaffen oder bei einer Weigerung der Mutter das Familiengericht anrufen müssen. Der körperliche Zustand des Jungen sei ab August 2013 bis zu seinem Tod bereits so reduziert gewesen, dass seine Unterversorgung und die daraus folgenden Verhaltensauffälligkeiten bei nicht nur ganz oberflächlicher Betrachtung des Kindes ins Auge gesprungen wären. Aufgrund ihrer Untätigkeit blieb der Angeklagten der sich über mindestens drei Monate andauernde Zustand des Verhungerns des Kindes pflichtwidrig verborgen, so dass sie das bei Kenntnis von der Situation Erforderliche nicht habe veranlassen können.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar.

Hinweis der Pressestelle:
Die Mutter der Kinder ist mit Blick auf die Unterversorgung ihrer Kinder vom LG Arnsberg (II-2 Ks 8/16) rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt worden.

Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm v. 06.11.2020

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